WITH HEAD, HEART AND HAND

Ginkgo-Blätter auf Spargel und die Erinnerung an Siziliens Zitronen – die Vize-Direktorin des Museums Angewandte Kunst in Frankfurt, Grit Weber, und THE FRANKFURTER-Autorin Jutta Failing sprachen im Restaurant Emma Metzler über Proust, Wanderlust und das Gefühl, den Ärmelkanal durchschwimmen zu müssen.

Es ist ihr letzter Arbeitstag. Die Ausstellung „Mythos Handwerk – Zwischen Ideal und Alltag“ ist eröffnet, sie ist eine der Kuratorinnen. Vier Wochen Urlaub liegen vor Grit Weber. Sie will einige Zeit an der Nordsee in St. Peter Ording verbringen. Strandspaziergänge, Salzluft und endlich die Muse, Marcel Prousts Mammutwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beginnen, erzählt sie. Ich kenne Grit schon viele Jahre, noch aus der Zeit als sie Chefredakteurin des Kunstmagazins Art Kaleidoscope war. Gemeinsam waren wir auf der Queen Mary II., ein Betriebsausflug. Wir erinnern uns beim Wiedersehen an diese lustige Zeit auf dem Ärmelkanal, die für mich mit heftiger Seekrankheit endete, aber erst als ich zurück an Land war. Das kann vorkommen.

A CITY VIBRATES

Wir sitzen auf der lauschigen Terrasse am Metzler-Park, nippen an der Gurke-Waldmeister-Hauslimo und sprechen über Fußball. Das Thema drängt sich auf. Über den Main schallt an diesem vorsommerlich heißen Mittag die Vorfreude, Siegesrufe, Polizeisirenen, abends wird die Mannschaft der Eintracht auf dem Römerbalkon erwartet. Die Stadt vibriert. Grit hat das Endspiel mit ihrem Partner, der Künstler ist, in einer Fußballerkneipe in Oberrad verfolgt. Es sei lustig dort gewesen, sagt sie und lacht. Ihr ehrliches Lachen ist sofort ansteckend. Sie lacht gern und sagt viele kluge, belesene Dinge, das habe ich immer geschätzt. Wir hatten mal ein Abonnement im Schauspiel Frankfurt, auf ihre Kritiken konnte man sich immer verlassen.

CRAFT, GOLDEN FLOOR?

„Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als würde ich den Ärmelkanal durchschwimmen. Das Ziel war klar. Man wusste auch, dass man es schafft, da man gut im Team begleitet wird. Der Aufbau war wie bei jeder Schau eine extrem körperliche Arbeit.“ Ein verständliches Bild, das Grit hier über die Vorbereitungen zur aktuellen Ausstellung im Museum entwirft. Man habe eine hohe Verantwortung für die Beteiligten und die Objekte. Der Zieleinlauf, das Ergebnis, das noch bis Mitte September zu sehen ist, stellt sie zufrieden. Es geht um das Handwerk – dem man sich in der Schau ungewöhnlich nähert. Weg vom Pathos oder einer Romantisierung. Gegenpaare werden gebildet, etwa Luxus und Notwendigkeit, Meisterschaft und Bastelei, lokal und global. Zu den Kooperationspartnern gehören das vorarlberg museum in Bregenz und das Kunstgewerbemuseum in Dresden, die Heimatstadt der Kuratorin. Gerade volljährig geworden, erlebte sie dort die politische Wende, bevor sie ein Zufall, ein Stellenangebot als Zahntechnikerin, nach Wiesbaden führte. Sie holte berufstätig das Abitur nach, studierte und schaffte mit scheinbar müheloser Beharrlichkeit den Weg in Kunstvermittlung und Kunstjournalismus. So zierlich sie wirkt, so eisern im besten Sinne kann sie sein: „Wenn ich etwas bereue, ist es, dass ich mir nicht mehr Hilfe geholt habe, etwa über ein Stipendium. Ich machte vieles allein, ein Auslandssemester wäre finanziell nicht möglich gewesen.“

WATER & CHAMPAGNE

„Ich ging im Walde so vor mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn ...“ Goethe kommt mir in den Sinn, als Grit über das Wandern erzählt. Prompt wird uns in diesem Moment Spargel mit einigen Ginkgo-Blättern serviert, für Goethe war dies der Baum der Freundschaft. Ein Hochgenuss aus der Küche von Anton de Bruyn, das junge Grün schmeckt zart nach Sauerampfer. Doch anders als der Dichterfürst sucht Grit beim Gang in die Natur etwas. Fast jedes Wochenende wandern sie und ihr Partner, oft 20 Kilometer lange Strecken. „Im Rucksack Wasser und Brote. Neulich sind wir mit der Regionalbahn nach Langenselbold, dort hat man Anschluss an einen Wanderweg, der durch den Nordspessart führt. Man kommt vom Wandern einfach total zufrieden zurück, so herrlich.“ Gern gewandert sei sie aber lange bevor es chic für Städter wurde, „in der Schule hatten wir eine Wandergruppe, organisiert von einer älteren Dame, einer tollen Frau“, erinnert sie sich an die Anfänge. Das jahreszeitliche Erleben und einfache Dasein beim Wandern, ohne viel Geld ausgeben zu müssen, schätze sie sehr. „Aber Champagner mögen wir auch!“, lachen wir beide.

PLACES TO READ

Ich necke sie mit Offenbach, wo sie seit Jahren lebt. „Die Frankfurter erkennt man sofort, wenn sie auf dem Markt am Wilhelmsplatz einkaufen“, neckt sie zurück. Wir gehen auf das Eis des Vergleichs, sie: „Frankfurt ist eine schnelle, sehr pragmatische Stadt, das gefällt mir. Klüngel halten sich in Grenzen und sind nicht so beständig. Auffallend ist, dass es in der Innenstadt nur wenige Plätze fürs Lesen gibt. Man sieht auch wenige draußen lesen. Ich war mit meinen Schwestern in Wien und wir sahen so tolle Cafés und Orte, wo stundenlang gelesen wird. Ich finde, auch das macht eine besondere Stadtqualität aus.“

Es gibt ein wunderbares Kochbuch des japanischen Bildhauers Shinroku Shimokawa. ‚Man kann keine Steine essen‘, heißt es. Grit Weber, Museum Angewandte Kunst

THE PROUST-EFFECT

Sie ist eine feine Beobachterin kleinster Nuancen, hinterfragt und wandelt gekonnt zwischen Bodenständigkeit und Podium, zwischen Wanderpfad und internationaler Museumsarbeit. Und sie ist wach, wenn es um das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen geht: „Toll, was ich bei meiner Lieblings-Eisdiele ‚Eis Christina‘ beobachtet habe. Ein Bentley fuhr vor, drei Männer stiegen aus, standen für Eis an und fuhren wieder weiter. Das fand ich lustig, typisch frankfurterisch.“

Anton de Bruyn scheint Gedanken lesen zu können, denn jetzt will ich Grit Weber noch nach der literarischen Ikone Marcel Proust fragen, dessen Jahrhundertroman sie mit ans Meer nehmen will. Zumindest den ersten Teil. Auf den Desserttellern werben weiß gepuderte Buchweizen-Madeleines und eine Holunderblüten-Granita um unsere Gunst. Augenblicklich ruft die köstliche Granita bei Grit die Erinnerung an einen Urlaub in Sizilien wach. Ein Phänomen, das man in der Psychologie übrigens als den Proust-Effekt oder auch Madeleine-Effekt bezeichnet. Mit einem einzigen Duft wird das Vergangene wieder so lebendig, als sei es gestern gewesen. „Es war ein heißer Tag in Sizilien und in einem Café gab es Granita di limone“, ist ihre Erinnerung präsent. In Prousts Roman dient dem Erzähler ein in Lindenblütentee getunktes Gebäckstück namens „Petite Madeleine“ als Schlüssel zur Vergangenheit. Kaum im Mund, entsteht ein unerhörtes Glücksgefühl und vor dem geistigen Auge steigen die Gärten glücklicher Tage auf. „Proust hat eine atmosphärisch schöne Sprache“, schwärmt die Vielleserin über die oft labyrinthischen Sätze des Schriftstellers, der in etlichen Bänden ein Sittengemälde der Belle Époque entwirft. Ob sie gern um 1900 gelebt hätte, also auf du und du mit Proust, frage ich unbekümmert, und trete fast in ein Wespennest: „Als Frau hatte man viel weniger Möglichkeiten als heute! Wenn im 19. Jahrhundert, dann als Mann und Ingenieur.“