THE GAME CHANGER

„In der Schirn mögen wir den Begriff ‚Blockbuster‘-Ausstellung nicht“, sagt Direktor Sebastian Baden und erklärt beim Lunch-Interview im veganen Sternerestaurant Seven Swans warum. Bald ein Jahr im hochkarätigen Amt treibt er die Vielfalt des Kunstortes mit aktuellen Fragestellungen voran.

Es ist ein kalter Tag. Nur langsam schiebt sich die Sonne über den Mainkai. Sebastian Baden schaut aus dem hohen Fenster im Seven Swans über den Fluss nach Sachsenhausen, wo er jetzt wohnt. „Ganz zu Anfang hatten meine Frau und ich gleich nebenan eine Wohnung. Die Aussicht aufs Wasser ist mir daher vertraut“, erinnert er sich an die ersten Wochen in Frankfurt. Er spricht präzise, angenehm zurückhaltend und zeigt sich im Gespräch als aufmerksamer Beobachter, ausgestattet mit dem, wie er selbst sagt, typischen Humor der Westpfälzer. An der Grenze zum Saarland ist er mit einem Zwillingsbruder aufgewachsen; der Vater war Rechtsanwalt, die Mutter Lehrerin. „Wir sind eine humorvolle Familie, das hat sich vererbt. Direktheit und Humor zeichnen uns aus.“ Seit Juli vergangenen Jahres ist Sebastian Baden Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt und damit Nachfolger von Philipp Demandt, der die Direktion dieser Frankfurter Institution sowie die des Städel Museums und der Liebighaus Skulpturensammlung 2016 von Max Hollein übernommen hatte.

FAIRYTALE JOURNEY

Auftritt Ricky Saward. Jedes Mal, wenn uns der Sternekoch einen Gang erläutert, ist das wie die wortreiche Ankündigung einer weit verzweigten Adelsfamilie durch einen Marschall bei Hofe. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, denn das, was hier kulinarisch im Rampenlicht steht, ist brutalst konsequent, was echte Nachhaltigkeit, Qualität und Originalität angeht. Welche vertrauten Dinge etwa durch Fermentierung eine geradezu alchemistische Wandlung erfahren, klingt – und schmeckt – außerordentlich: unreife Erdbeeren, Apfelblüten, Steinpilze oder auch „eine Creme aus unreif geernteten Kieferzapfen aus dem Taunus, drei Tage bei 90 Grad Celsius gekocht“. Am Ende dieser märchenhaften Reise für Auge und Gaumen wird uns „Schwanenkönig“ Ricky Saward einen in Eis gebetteten Elstar-Apfel mit „Deckelchen“ überm Sorbet servieren, den sich die Brüder Grimm nicht besser hätten ausdenken können.

Je perfekter die Kunst, desto langweiliger und dekorativer wird sie. Dr. Sebastian Baden, Direktor Schirn Kunsthalle Frankfurt

BIG NAME-DROPPING

Kunst und Gourmet – gibt es da nicht Parallelen? „Ganz sicher die handwerkliche Perfektion“, sagt Sebastian Baden und spannt den weiteren Bogen: „Je perfekter bildende Kunst aber ist, desto langweiliger und dekorativer wird sie. Spannung entsteht durch Brüche, das Fehlerhafte.“ Eine solche vibrierende Spannung – in der Geschichte mitunter bis zum Zerreißen gängiger Vorstellungen von Kunst – veranschaulicht die aktuelle Ausstellung in der Schirn mit Werken von Niki de Saint Phalle. Die Künstlerin griff in den frühen 1960er-Jahren zur Waffe, um damit „Körper“ aus weißem Gips und Farbbeutel zu beschießen. „Das war der entscheidende Durchbruch in ihrer Karriere“, erklärt der Direktor, „und wir präsentieren in einem breiten Werküberblick ihre bekannten ‚Nanas‘, aber eben auch diese frühen ‚Schießbilder’, Dokumentaraufnahmen und Videos zeigen, wie die Künstlerin dem damaligen Publikum das Gewehr in die Hand drückt und dieses dann bei einer Vernissage selbst schießt. Das ist ein Moment der Selbstermächtigung und zugleich der Ermächtigung des Publikums. Es ist eine Überwindung von Grenzen – auch ein Akt des Ikonoklasmus, der Zerstörung. Gleichzeitig zeigt die Künstlerin, dass etwas Neues entsteht. Diese Tiefe und Aktualität sind ziemlich cool.“

Nach der Chagall-Ausstellung im Winter ist dies die nächste Blockbuster-Schau: Großer Name, große Anziehung. „Wir mögen den Begriff ‚Blockbuster‘ nicht, da er ursprünglich aus dem Militärischen kommt“, wendet Sebastian Baden umgehend ein. (Im Zweiten Weltkrieg meinte es eine Luftmine, mit der ganze Häuserblocks zerstört wurden, A.d.R.). „Publikumsausstellung“, sei ihm daher lieber. Auf einige darf man sich besonders freuen: Ab Juni stellt „Plastic World“ Fragen zur künstlerischen Verwendung und Bewertung von Kunststoffen. Zuvor begegnet man einer wahrhaft monströsen „Höllenschlund“-Installation der britischen Künstlerin Monster Chetwynds in der öffentlich zugänglichen Rotunde. Und im Herbst wieder Big Name-Dropping mit Lyonel Feininger.

THERE ARE NO COINCIDENCES

Wir beide teilen eine Erinnerung. Wie tausende anderer Kinder nahmen wir mit Feuereifer am jährlichen bundesweiten Kunstwettbewerb teil, den die Volksbanken und Raiffeisenbanken seit 1969 an den Schulen ausschreiben. Sebastian Baden gewann regelmäßig Preise. Als Abiturient wurde ihm ein Sonderpreis des Wettbewerbs verliehen, belohnt mit einem Workshop bei Professor Hans Daucher in München. „Ich spreche oft von glücklichen Fügungen anstatt von Zufällen. Diese passierten oft in meinem Leben“, erinnert sich der früh Talentierte. Professor Daucher, der den ersten Lehrstuhl für Kunstpädagogik begründete, ermutigte ihn, eine Bewerbungsmappe für die Kunstakademie anzufertigen. So nahm eine Karriere ihren Anfang. „Eines meiner Werke ist sogar in eine Unternehmenssammlung gelangt“. Mit seinem Zwillingsbruder Lukas eröffnete der Student in Karlsruhe eine Galerie, die bald internationale Kooperationen einging und Werke für die Sammlung des Unternehmers Reinhold Würth vermittelte. „Eine tolle Zeit, so lernte ich die Metaebene des Kunstgeschäfts kennen.“ Er ist fortan auf mehreren Ebenen unterwegs, als Kunstvermittler, Künstler und Kunstwissenschaftler. Zuletzt macht er sich als Kurator für zeitgenössische Kunst, Skulptur und Neue Medien an der Kunsthalle Mannheim einen Namen.

THE POLITICAL VIEW

„Das Image des Terrorismus im Kunstsystem“, titelte er 2014 seine hochspannende Dissertation. „Die Bild- und Begriffsgeschichte des Terrors reicht vom Kirchenportal bis zum Internetportal“, schreibt er darin. „Bilder von Terrorismus und Terror gehören zur politischen und auch christlichen Ikonografie – und damit zur Kunstgeschichte. Das Thema der politischen Ikonografie wird sich garantiert in den nächsten Jahren in der Schirn bemerkbar machen“, kündigt er in unserem Gespräch an. Seine erste, von ihm initiierte Schau in Frankfurt – Werke der jungen sudanesischen Künstlerin Amna Elhassan, die sich mit dem Status der Frauen und der Zerschlagung der Demokratiebewegung in ihrer Heimat beschäftigen – darf man dahingehend programmatisch sehen. Auch will er der Städelschule näher kommen, „aus der Perspektive der Schirn ist der junge Nachwuchs sehr spannend“. Welche Weg- und Landmarken er mit seinem Kurator:innenteam in den nächsten Jahren setzen kann, wird man aufmerksam beobachten. Gefordert, und dafür ist er gekommen, sind reizvolle Themen- und Newcomer-Ausstellungen. Gern dürfen diese auch mal richtig schrill sein, wie die besagten (begehbaren!) Monstermäuler in der Rotunde.

MORE SUPPORTERS WANTED

Die Themen wechseln wie die jedes Mal überraschenden Gänge. Zuhause wurde dialektgefärbt gesprochen. Der Großvater war Standesbeamter: „Mein Opa war schon ein Vorbild für mich, extrem kreativ, geduldig und ein zauberhafter Gärtner. Ich sehe in Großeltern auch wichtige Kunstvermittler:innen für die übernächste Generation“. Seiner Tochter, die in der Schweiz lebt, hat er das touristische Frankfurt längst gezeigt, natürlich auch den Goetheturm. Apropos hoch und höher. Er muss als Direktor groß denken. Eines seiner Ziele, so betont er mehrmals, ist neben der Weiterführung von Ausstellungssponsorings und Partnerschaften mit Unternehmen und Stiftungen die Erweiterung des Freundeskreises („Schirn Freunde“ und, für Förder:innen bis 40 Jahren, der „Schirn Circle“). „Dieser Freundeskreis mit seinen Privat- sowie Firmenmitgliedern ist das Rückgrat des Hauses“, weiß er, „denn er fördert die Durchführung außergewöhnlicher Ausstellungen, wichtiger Publikationen und macht sich für Vieles mehr stark.“ Max Hollein war ein begnadeter Geldsammler. Und auch Sebastian Baden muss Spenden sammeln, das ist nun Teil seines Jobs.