Seit 1816 setzt sich der Verein Polytechnische Gesellschaft Frankfurt für Kultur, Wissenschaft, Soziales und eine lebendige Stadtgesellschaft ein. „Wir sind der Illusion des unbegrenzten Wachstums aufgesessen“, beschreibt dessen Stiftungsleiter Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich eine uns alle angehende gesellschaftliche Herausforderung. THE FRANKFURTER-Gastautorin Gabriele Eick sprach mit ihm über demokratische Werte, TikTok und verführerische Versprechen.
Gabriele Eick: Lieber Herr Professor Dievernich, seit nun anderthalb Jahren leiten Sie die Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt. Bitte erläutern Sie unseren Leser:innen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit, sozusagen den Markenkern, die aktuellen Herausforderungen und warum man Sie für diese Aufgabe gewinnen konnte?
Gabriele Eick: Lieber Herr Professor Dievernich, seit nun anderthalb Jahren leiten Sie die Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt. Bitte erläutern Sie unseren Leser:innen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit, sozusagen den Markenkern, die aktuellen Herausforderungen und warum man Sie für diese Aufgabe gewinnen konnte?
Ein Teil Ihrer Arbeit dürfte auch die Einmischung in die Geschehnisse und in die Stadtgesellschaft Frankfurts sein. Sie haben bei einer Veranstaltung des „Urban Future Forums“ zum Thema „Die ästhetische Kapitulation des Öffentlichen Raums oder dessen Rückgewinnung“ einen bemerkenswerten Vortrag gehalten. Darin prangern Sie an: „Die Logik der Funktionalität, der Reproduzierbarkeit, der Vorhersehbarkeit, jeder Organisations- und Kontrolllogik haben überhandgenommen und jenen Platz der Schönheit eingenommen“. Meine Frage: Wie gewinnt man das Auge der Menschen für Schönheit und damit auch positive Verweildauer zurück?
„Ich denke, dass Menschen nach wie vor einen inneren Seismographen besitzen und schnell, quasi intuitiv, empfinden, was schön und was weniger schön ist. Jedoch gewöhnt sich das Auge an Umstände. Das ist ein Problem. Die Diskussion um Schönheit im Stadtbild ist keine oberflächliche. Schönheit nötigt uns einen Respekt ab, erdet, sie inspiriert uns. Gute Architekten haben die Stadt immer als funktionierendes, soziales Gebilde im Auge. Der Kulturcampus, könnte beispielsweise im doppelten Sinne ein Ort der Schönheit werden: von der Gestaltung her, aber auch als Ort ästhetischer, künstlerischer Bildung für alle. Das muss man aber wollen – und endlich entscheiden.“
Ein Großteil der Arbeit Ihrer Institution konzentriert sich auf Bildung und den Zusammenhalt der Gesellschaft in einer Zeit, wo beides kontrovers diskutiert wird und die Erwartungshaltung an die, die diese Themen transportieren müssen, scheinbar unendlich sind? Wie bekommt man ein auf Werte basiertes Bildungskonzept hin, das auch den Wert der Freiheit und der Demokratie unmissverständlich klarmacht?
„Ich glaube nicht, dass die Notwendigkeit nach Bildung und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt kontrovers diskutiert wird. Eher erscheint das Thema so groß und es gibt keinen alleinigen Verantwortungsträger dafür. Es bedarf uns alle. Und man kann so viel ganz praktisch machen. Etwa in den Schulen: 2026 kommt die Ganztagsschule. Das ist mehr, als dass Kinder nachmittags einfach nur ‚betreut‘ und mit Essen versorgt werden. In diesem Zeitfenster könnte ‚social learning‘, also gesellschaftliches Engagement, eingeübt werden. In den Grundschulen könnte in dieser zusätzlichen Zeit Deutsch gelernt und die Stadt erkundet werden. Schließlich: Unternehmen könnten entscheiden, dass Aktivitäten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Stärkung von Demokratie und Freiheit gefördert werden. Wir brauchen mehr Kooperationen zwischen Unternehmen und Zivilgesellschaft, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Großen zu stärken. Für mich liegt in der gegenwärtigen Krisenstimmung aber auch eine Chance, dass viele Institutionen und Organisationen unserer Gesellschaft sich darauf besinnen, dass jeder von ihnen das Grundgesetz, Demokratie und Freiheit als Referenzpunkt für alle weiteren Handlungen in ihrem Verantwortungsbereich setzen.“
Social Media, die abgelenkte Gesellschaft, die Angst vor der Zukunft, dem gesellschaftlichen Abstieg und dem Fremden – um nur einige zu nennen – sind Herausforderungen, die nicht nur die Politik in großen Teilen überfordern. Wo sehen Sie Lösungsansätze?
„Diese Punkte gehören alle zusammen, sie sind Symptome unserer Zeit. Wir müssen über die Ursachen sprechen: Wir sind der Illusion des unbegrenzten Wachstums aufgesessen. Das große Versprechen lautete ‚Mehr vom Mehr – und das für alle‘. Das ist natürlich verführerisch. Wir wollten Freiheit nur verstehen als Freiheit von etwas, nicht aber auch als Verantwortung für etwas. Eine Desillusionierung kann auch ein Neuanfang sein. Es braucht eine Bildungsstruktur und die entsprechenden Investitionen sowie einen langen Atem, bis diese wirken. Was Bildungsinhalte angeht, muss es um das Verständnis von Systemkomplexitäten gehen, um transdiziplinäres Agieren, aber vor allem um die Betonung und das Verständnis des inneren Wachstums. Äußeres Wachstum hat Grenzen, das innere Wachstum erscheint jedoch grenzenlos. Das schenkt doch Hoffnung auf Zukunft, wenn man sich selbst als lebenslanges Lernfeld entdecken kann.“
In jedem Jahrhundert gab es Ängste um „die Jugend“. TikTok scheint eine unendliche Anziehungskraft für junge Menschen zu haben und gleichzeitig gibt es ausreichend Studien und mahnende Stimmen, deren finale Ausprägungen man nicht zu Ende denken möchte. Was tun?
„Die neuen Technologien und soziale Medien verändern das Gehirn und sie haben, gerade was TikTok angeht, Suchtpotential. Anhand der Verweildauer und thematischen Neigung erhalten sie nur mehr jene Inhalte, die sie zu präferieren scheinen. Willkommen in einer geschlossenen Blase. ‚Befreit die Jugend‘ muss das zentrale Handlungsparadigma der Politik und für uns alle lauten. Dafür braucht es Medienkompetenz und aktive und persönliche Hinwendung. In unserem Projekt ‚Meine Zeitung – Schüler lesen die F.A.Z.‘ beispielsweise lernen Jugendliche, Zeitung zu lesen. In Langzeitarbeiten bearbeiten sie ein Thema, recherchieren, vergleichen Quellen. Sie begeben sich als Entdecker in die Welt. Sie werden dabei betreut. Und siehe da – eine solche Erfahrung haben wir gemacht – nach kürzester Zeit waren die Verschwörungsmythen, die am Anfang in der Klasse vorherrschten, verschwunden. Mit der Jugend ins Gespräch kommen, neugierig auf sie sein und ernsthaft zeigen, dass man sie verstehen möchte – so entsteht Bindung und ohne Bindung keine Bildung.“
Welche Chancen sehen Sie für Frankfurt in der nahen Zukunft und was müsste passieren, damit Frankfurt weiter seine Stärke wie in den letzten Jahrhunderten aus dem Einsatz und Zusammenhalt der Stadtgesellschaft ziehen kann?
„Frankfurt war immer eine freie Stadt. Es ist unser aller Aufgabe, diese Freiheit zu sichern. Nur in Freiheit können neue Ideen entstehen und umgesetzt werden. Das ist gerade in Zeiten großer Herausforderungen wichtig. Frankfurt besitzt eine unglaubliche Vielfalt, deren Kombination Neues produzieren kann – und mit Glück kann dieses Neue auch Lösungen für das Heute und Morgen darstellen. Wir müssen beginnen, ganz aktiv das Verschiedene zusammenzubringen, wir müssen neugierig aufeinander sein, um zu lernen. Ich wünsche mir, dass wir ganz aktiv die Menschen fragen, wenn sie in diese Stadt kommen, was sie denn mitbringen, wo sie sich einbringen wollen. Dafür müssen wir zum Beispiel die Struktur der Bürgerämter verändern. Ob aus dem Ausland oder dem Inland: Es muss klar sein, dass wir von den Menschen, die zu uns nach Frankfurt kommen, erwarten, dass sie sich einbringen. Ich wünsche mir, dass wir diese Menschen mit entsprechenden zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenbringen, sodass diese sich sofort hier einbringen können. Zivilgesellschaftliches Engagement darf nicht Zufallsprodukt bleiben – man muss es wollen und organisieren.“