In Istanbul gehen die Sterne auf – der Gastronomieführer Guide Michelin bewertete erstmals Restaurants in der türkischen Metropole. Bis dahin weitgehend unbemerkt von der internationalen Presse, etablierte sich am Bosporus eine Gourmet-Kultur der Extraklasse. THE FRANKFURTER-Autor Volkan Brandl traf den Superstar Fatih Tutak – und bewies übrigens das richtige Gespür, denn dessen Restaurant erhielt als einziges zwei Sterne.
CULINARY CONSTANTINOPLE
Meine kulinarische Reise führt in eine der schillerndsten Metropolen weltweit, nach Istanbul, dem alten Konstantinopel. Seit Jahrhunderten zieht diese prächtige Stadt zwischen Orient und Okzident mit ihren unzähligen kulinarischen und kulturellen Einflüssen Gourmet-Versessene magisch an. Die türkische Küche gilt als eine Weiterentwicklung sowohl der indischen, persischen und arabischen Küche, als auch der traditionellen des Mittelmeerraums. Vor allem die osmanische Kultur der Sultane (und ihrer Palastküche) prägte die türkische Kochtradition.
YOUNG HEART(H) BEATS
International kaum beachtet, hat sich in Istanbul in den letzten Jahren eine großartige und moderne Gourmet-Kultur etabliert. Initiatoren dieser kulinarischen Revolution sind junge, kreative türkische Köche, die ihre Praxis in Europa und Asien bei Sterneköchen abrunden konnten. Und genau diese „jungen Wilden“ sorgen nun für eine Renaissance der türkischen Küche. Alte anatolische und osmanische Rezepte werden durch sie neu interpretiert und teilweise mit asiatischen Spices und Techniken fusioniert, so dass diese im Charakter unverkennbar bleiben und dennoch auf einzigartige Weise verändert werden.
AND THE WINNER IS ...
Nun ist Istanbul die 38. Destination des Guide Michelin. Zweifelsohne ein wichtiger Schritt, um die Haute Cuisine in der Türkei zu etablieren. Fünf Restaurants wurden Mitte Oktober ausgezeichnet, jeweils einen Stern erhielten: Mikla, Araka, Neolokal (hier außerdem der ‚Green Star‘ für nachhaltige Gastronomie) und Nicole. Zehn weitere Restaurants wurden lobend erwähnt, die meisten auf der europäischen Seite der Stadt. Allein das Restaurant von Spitzenkoch Faith Tutak erhielt zwei Sterne. Einige Wochen vor der Auszeichnung besuchte ich ihn in Istanbul, darauf vertrauend einem riesigen Talent zu begegnen.
NEW SUPERSTAR: FATIH TUTAK
Ein holpriger Start. Nur kurz vor der Pandemie, im Dezember 2019, eröffnete sein Restaurant Turk – Faith Tutak in Bomonti-Sisli, einem aufstrebenden Szeneviertel Istanbuls. Wie viele andere bewies der junge Türke trotz der Schließung Durchhaltevermögen. Und es lohnte sich. Nun leuchten die Sterne. Bereits der Gastraum ist beeindruckend. Das moderne Interieur überzeugt mit eleganter Wärme. Braunabstufungen und Holz herrschen vor, die Linien sind schlicht und minimalistisch. Das Front Cooking mit offener Feuerstelle lässt den Gast unmittelbar an der Kochatmosphäre teilhaben, ein Höchstmaß an Transparenz.
THE WAY TO NEW TURKISH CUISINE
Ein konsequenter Weg liegt hinter dem 37-Jährigen. Bereits in jungen Jahren besuchte Tutak, von seiner Mutter inspiriert, in der Stadt Mengen (Provinz Bolu) die renommierteste Kochschule der Türkei. Unmittelbar im Anschluss an die Ausbildung arbeitete er im Istanbuler Ritz Carlton unter Paul Pairet (drei Michelin-Sterne). Durch dessen Einfluss richtete sich sein Fokus fortan nach Fernost. Die südostasiatische Küche Chinas und Japans interessierte ihn seit jeher. Schließlich verließ er seine berufliche Komfortzone und unternahm eine glückliche Odyssee nach Qingdao am Gelben Meer, Singapur und Hongkong, und absolvierte darüber hinaus eine Stagiaire in Tokio unter Seiji Yamamoto in dem mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten Nihonryori Ryugin.
Mit 30 Jahren konnte Fatih Tutak den Gästen im „The Dining Room of The House on Sathorn“ in Bangkok seine Kochkünste offerieren. In nur zwei Jahren stieg er dort zum Director of Culinary Operations auf und führte sein talentiertes Team zur internationalen Akkreditierung bei „Asia’s 50 Best Restaurants“. Für einen VIP-Expat-Gast kreierte er dort erstmals ein Fusion-Gericht aus fernöstlicher und türkischer Küche: Manti, das heißt, türkische Dumplings. Durch die äußerst (positive) emotionale Reaktion des Gastes darauf, erkannte Fatih Tutak, wie wichtig es für ihn ist, die traditionellen türkischen Gerichte weiterzuentwickeln und mit einer eigenen Note zu versehen. Er entwickelte ein Menü der „Neuen türkischen Küche“ und stellte es dem Publikum im The Dining Room vor. „Mir wurde klar, dass ich die Turkish Cuisine wirklich von Grund auf verstehen muss“, erinnert er sich. Anfang 2019 kehrte er daher in die Türkei zurück.
TRADITIONAL RECIPES
Ich musste die wahre Türkei riechen, berühren, fühlen; wieder Teil der Menschen meines Landes werden – der einzige Weg, meinen Geist und mein Herz zu füttern und meiner Passion nach meinen Vorstellungen nachzugehen. Faith Tutak, Turk, Istanbul
„Ein Gericht muss das Herz berühren“, erklärt er mir seine Philosophie: „Das musste ich respektieren und verstehen lernen. Eine Mahlzeit, mit der man seit seiner Kindheit vertraut ist, muss auch als Geschmackserinnerung erkennbar sein. Das bedeutet für mich, quasi bei null anzufangen. Ich muss mich auf die einzelnen Produkte eines Rezepts konzentrieren und neue Techniken und Verfahren verwenden, um etwas wirklich Einzigartiges schaffen zu können."
THE TURK: THE NAME SAYS IT ALL
Die Eröffnung des Restaurants war nicht nur eine Rückkehr in die Heimatstadt, sondern auch eine Reise in die kulinarische Geschichte der Türkei und das Verständnis des eigenen kulturellen Erbes. Fatih Tutaks Küche soll nicht kopieren, sondern Vergessenes revitalisieren, Altes erforschen und auf eine erfinderische Art und Weise neu konstruieren. Er bringt eine schier grenzenlose Leidenschaft zum Ausdruck, indem er auf einzigartige Weise raffinierte Neuinterpretationen traditioneller Geschmacksrichtungen erfindet. Dadurch erzeugt er eine neue, eigene Sprache in der türkischen Küche. Anstelle einer Suppe, wie sie traditionell üblich ist, setzt er zum Beispiel Tarhana als Gewürz und Sauce ein. Er experimentiert mit Fermentationen von Produkten, Gewürzen und setzt gezielt Garum ein, ein Standardgewürz in der antiken römischen Küche, ähnlich der asiatischen Sojasauce. Er fermentiert Miso, Gurken und anderes Gemüse, um mit Hilfe von natürlichen Enzymen und Milchsäurebakterien ein Optimum an Geschmack zu erzielen. Somit „streckt“ er nicht nur die Haltbarkeit, sondern auch den Reifeprozess des Produkts. Aufgrund regelmäßiger Kontrollen kann er das fermentierte Produkt am Höhepunkt der Aromenentwicklung bestmöglich einsetzen.
ACROSS THE COUNTRY
Ein Degustationsmenü besteht meist aus zehn Gängen und führt durch viele Regionen der Türkei. Eine passende Weinbegleitung rundet das Menü hervorragend ab. Sämtliche offerierenden Weine werden in der Türkei vinifiziert. Eines meiner Highlights ist eine Thunmakrele aus Wildfang, die auf eine gesmokte Aubergine gebettet ist. Die Aubergine ist mit einem Makrelen-Tartar, getrockneten Tomaten und Anchovis dezent gefüllt. Zusätzlich ist die Aubergine mit einer Tomatenmelasse bestrichen, um den süß-sauren Geschmack zu intensivieren. Die Makrele bekommt hier, zur Veredlung des Endprodukts, einen Limonen-Abrieb, einen kleinen Spot Radieschen und ein Topping aus türkischem Osietra Kaviar. Drei unterschiedliche Öle aus lila Basilikum, fermentiertem Chili und kaltgepressten Oliven sowie ein spezieller Sud aus Kräutern und feinem Gemüse vollenden das Gericht meisterhaft. Alles in allem eine fantastische Komposition hochwertiger Erzeugnisse, die filigran miteinander harmonieren und absolut Lust auf mehr machen.
Jetzt glänzen also zwei Michelin-Sterne im Haus, ein Aufstieg in den Gourmet-Olymp, den es in Zukunft zu verteidigen gilt. Eine absolut verdiente Auszeichnung, wie ich finde. Und der Prämierte ist überglücklich, wie er mir am Telefon erzählt: „Wir haben Geschichte geschrieben! Ich bin so stolz und dankbar, und ich danke meinem Team. Die Story geht weiter ...“