Wenn im Herbst 2023 in Wiesbaden das Museum Reinhard Ernst (mre) eröffnet, ist das Rhein-Main-Gebiet um eine Attraktion reicher. Zu sehen gibt es eine der umfangreichsten Privatsammlungen abstrakter Kunst in Deutschland in einem 80-Millionen Neubau. THE FRANKFURTER sprach auf der Baustelle den Gründungsdirektor Dr. Oliver Kornhoff.
PRIVATELY COLLECTED – PUBLICLY PRESTENTED
Es heißt, er komme jeden Tag auf die Baustelle. Der Wiesbadener Unternehmer Reinhard Ernst sammelt abstrakte Kunst und hat der Landeshauptstadt ein Museum geschenkt. Mit allem Drum und Dran: Die über vier Jahrzehnte gesammelten Kunstwerke, es sind viele Hunderte, allesamt wertvolle Sahnestückchen, der riesige Neubau an der Wilhelmstraße vom japanischen Stararchitekten Fumihiko Maki und der künftige Betrieb mit Kunstpädagogik, Museumsshop, Gastronomie, mietbaren Eventflächen und allem, was ein modernes Museum ausmacht. Alles wird komplett aus eigenen Mitteln mit Hilfe der gemeinnützigen Reinhard & Sonja Ernst-Stiftung finanziert. Für das Baugrundstück Wilhelmstraße 1, zuletzt ein Parkplatz am repräsentativen Boulevard, wurde mit der Stadt Wiesbaden ein Erbbaurechtsvertrag über 99 Jahre abgeschlossen. „Kein Euro Steuergeld ist in den Bau des Museums geflossen“, betont Direktor Oliver Kornhoff.
SUGAR CUBE
„Zuckerwürfel“ nennen die Wiesbadener:innen den Neubau bereits. Tatsächlich begegnet der kubische Bau wegen seiner fast außerirdisch wirkenden, kristallin schimmernden Fassade aus amerikanischem „Bethel White“-Granit (insgesamt 6.000 Quadratmeter wurden verbaut) wie ein gigantischer Zuckerwürfel oder Monolith. Seine Traufhöhe entspricht jener der hübschen Gründerzeithäuser auf der gegenüberliegenden Seite der Wilhelmstraße – was, wie so vieles bei dieser Architektur und ihrer Verortung im Stadtraum, kein Zufall ist. Dann die zweite Überraschung. Das Innere offenbart sich über die Stockwerke als eine Art begehbare Skulptur, die lichtvoller kaum sein könnte. Es ist ein Labyrinth, in dem man sich aber nicht verlaufen kann. Der höchste Raum ist gigantische 14 Meter hoch und entlockt uns ein Wort: „Kathedrale“. „Die Bezeichnung Zuckerwürfel finde ich gut. Das heißt, die Menschen setzen sich mit dem Bau auseinander“, freut sich Kornhoff.
OLD MAPLE IN THE ATRIUM
Ein Stapler kreuzt unseren Weg, überall sind Handwerker beschäftigt. Über noch rohe Treppen geht es nach oben. Gerade wurden in einem Ausstellungsraum die Eichendielen geölt, es duftet schon von weitem. Bis zu fünf Meter lang sind die edlen Bretter. Anker und Orientierung ist, ganz gleich auf welchem Stockwerk man sich befindet, das verglaste „Atrium“, der Innenhof, der uns lenkt, anzieht und emotionalisiert. Wieder eine Überraschung: Unten im Hof wächst ein Ahornbaum. Ein 60-jähriger Koloss, der an diese Stelle verpflanzt wurde, was nur mit Hilfe eines Krans gelang. Neben dem Ahorn steht eine Stahlskulptur von Eduardo Chillida, einem der bedeutendsten Vertreter der abstrakten Plastik und bis zu seinem Tod ein Freund des Architekten Fumihiko Maki.
THE CATHEDRAL
Ein faszinierendes Phänomen, erklärt uns Direktor Kornhoff: „Alle Räume sind aufwendige mit Akustik-Putz ausgestattet. Dieses Material, das sonst für Großraumbüros verwendet wird, verbessert durch seine hohe Schallabsorption die Raumakustik maßgeblich. Überall kann man sich normal unterhalten, ohne dass es hallt oder andere stört. Bei uns muss man nicht andächtig flüstern oder betont leise herumlaufen.“ Dieses Phänomen trägt dazu bei, die Raum- und auch die Kunsterfahrung noch zu steigern. Da ist die „Kathedrale“, dann wieder ein niedrigerer, sehr breiter Raum, der uns wiederum an eine Krypta erinnert. Nie wird der Bau langweilig, er führt seine Besucher:innen durch und zu emotionalen Erfahrungen.
IMPORTANT ABSTRACT ART
Im fertigen Haus werden drei eng verzahnte kunsthistorische Strömungen präsentiert: der amerikanische Abstrakte Expressionismus, das europäische Informel und die japanische Gutai-Gruppe. Letztere entstand in den 1950er-Jahren, als sich in Japan ein großer gesellschaftspolitischer Wandel vollzog und Künstler:innen nach neuen, radikalen Ausdrucksformen durch die Verbindung von Performance, Malerei, Installation und Theater suchten. So malte Kazuo Shiraga mit den Füßen, Akira Kanayama mit einem ferngesteuerten Auto. Neben Leihgaben von Museen und Privatpersonen aus aller Welt bildet die Sammlung Reinhard Ernst mit über 900 Gemälden und Skulpturen den Grundstock der künftigen Ausstellungen. Prominente Namen wie Frank Stella, Damien Hirst, Helen Frankenthaler (allein von ihr besitzt Reinhard Ernst 40 Gemälde), Ernst Wilhelm Nay, Jackson Pollock und viele andere werden vertreten sein.
TONS OF GLITTER
Gleißendes Sonnenlicht fällt am Tag unseres Baustellenbesuchs auf die Kurstadt. Der „Zuckerwürfel“ – die aus vier Quadranten zusammengesetzte Gesamtform – glitzert im Licht. Doch nicht allein der eigens aufgeraute Granit verursacht das. Die Fugen wurden nachträglich mit Quarzsand bestäubt, so dass das Gebäude wie aus einem Guss gemacht aussieht. Zwar wirkt es dadurch monolithisch, aber keineswegs abweisend. Es ist ein sympathisches Glitzern. Durch die Kunst will das mre viel „Süßes“ und Anregendes für die Sinne bieten. „Die Architektur sieht sich im Dienst der Kunst und ihrer Betrachter:innen. Es soll ein Haus für alle sein“, so Oliver Kornhoff. Auf der Eingangsebene befindet sich unter anderem ein Bereich für kunstinteressierte Kinder und Jugendliche, die bis zum 18. Lebensjahr freien Eintritt haben. Ein Novum: Erst ab 12 Uhr ist das mre für erwachsene Besucher:innen geöffnet, vorher gehört das Haus ganz den Jüngeren.
LONG FRIENDSPHIP
Für den mittlerweile 95-jährigen Architekten Fumihiko Maki, der mit seinem Büro Maki and Associates in Tokio lebt und arbeitet, ist es sein zehntes Ausstellungshaus. Eine lange Freundschaft verbindet den Japaner mit dem Wiesbadener Kunstsammler. Breite weiße Fassaden, verbunden mit einer fast kalligrafischen Leichtigkeit und Balance, sind typisch für Maki. Zu seinen prominentesten Referenzen gehört das Four World Trade Center, das Neubaugebäude am Ground Zero in New York.
FRENZY OF COLOR
Jetzt ist Endspurt. Mehrfach wurde die Eröffnung verschoben, was den weltweiten Engpässen bei Baumaterialien und gestörten Lieferketten geschuldet war. Außerdem musste ein unterirdischer Wasserlauf umgeleitet werden. Die Generalplanung übernahm das Frankfurter Büro Schneider + Schumacher. Nach der Bauübergabe wird es noch Wochen dauern, bis die Kunstwerke an ihrem jeweiligen Platz in der Ausstellung sind. So muss erst eine konstante Luftfeuchtigkeit und Temperatur innerhalb der Räume gehalten werden. Tony Craggs über sechs Meter hohe und zwei Tonnen schwere Skulptur ist schon da, noch gut verpackt wie eine Mumie. Sie ins fertige Museum zu transportieren, wäre unmöglich gewesen. Tonnenschwer auch die Glaskunstarbeiten von Katharina Grosse und anderen Künstler:innen, die im mre dauerhaft verbaut werden. Grosses Entwurf, umgesetzt von der Glasmanufaktur Derix in Taunusstein, titelt „Ein Glas Wasser, bitte“ und wird im Herzstück der Kunstvermittlung – das Farblabor im Erdgeschoss – zu sehen sein. Auf acht Glaspanels entfaltet sich ein wahrer Farbrausch, so als tauche man mit dem Pinsel und immer neuen Farben in ein Glas Wasser.
YOU ARE MY SUGAR
Wiesbaden wird stolz sein auf diesen baulich extravaganten Neuzugang neben dem Landesmuseum Wiesbaden. Der Würfel, der für alle da sein soll, und sich mit gefühlt breiten Armen der Stadt und der Welt öffnet, katapultiert in die Moderne. Erstaunlicherweise, und hier sollten Zweifler:innen aufhorchen, (ver-)stört er keineswegs die historische Zuckerbäcker-Architektur, die man sonst in Wiesbaden so gern sieht. Im Gegenteil. Ein so klares bauliches Statement für die abstrakte Kunst und die Kunstvermittlung macht die Süße der Kurstadt perfekt.