Mit der im Dezember 2019 eröffneten Oyster Lodge in Bad Vilbel hat der aus Südkorea stammende Jay Lee seinen Traum von einem traditionellen, authentischen Sushi-Restaurant, das sich genauso gut in direkter Nähe zum Bahnhof in Ginza, in einem Hochhaus in Roppongi oder an einem der anderen Orte befinden könnte, wo mit Michelin-Sternen ausgezeichnete Sushi-Bars in Tokio normalerweise gelegen sind, mutig verwirklicht. Unser Besuch bei einem Geheimtipp!
OUTSIDE IS GERMANY, INSIDE IS JAPAN
Schon das Betreten des Restaurants entführt in eine andere Welt: Eine offene Küche, in der der Sushi-Chef und Inhaber Jay Lee seine intensive und detaillierte Arbeit ausübt. Davor ein Tresen mit sechs Sitzplätzen aus hellem Hinoki-Edelholz, so dass man ihm bei der Zubereitung der Speisen zusehen kann. Das klare, minimalistische, beinahe intime Ambiente strahlt Ruhe aus mit der subtilen Schönheit des Hinoki-Holzes, und soll Gäste aus der Hektik des Alltags holen. All dies hat Jay Lee selbst bis ins Detail geplant, denn es geht um nicht weniger als um die Erfüllung seines Traums.
GOING ALL-IN FOR THE DREAM
Für diesen Traum hat der Südkoreaner in mehrfacher Hin-sicht einen weiten Weg zurückgelegt: "Eigentlich hatte ich einen anderen Beruf. Ich habe in Südkorea als Flugzeugingenieur gearbeitet. Aber ich war überhaupt nicht glücklich", berichtet er und fügt überraschend hinzu: "Kochen ist schon dem Bau eines Flugzeugs ähnlich. Man muss Teile herstellen und sie danach zusammenbauen." Seine Begeisterung für ausgerechnet die japanische Küche findet er keineswegs überraschend: "Korea war eine japanische Kolonie. Deshalb gibt es dort eine lange japanische kulinarische Tradition."
Der Entschluss, seinen Beruf für eine Ausbildung zum Sushi-Chef an den Nagel zu hängen, sorgte für Konflikte in seiner Familie: "Ich musste erst mit meinen Eltern darüber reden und hatte großen Ärger mit ihnen, als ich sagte, dass ich als Ingenieur aufhöre. In Korea wird erwartet, dass wir die Anweisungen unserer Eltern befolgen." Aber Jay Lee ließ sich nicht beirren, kaufte ein Flugticket, flog nach Tokio und klopfte – wie er schätzt – bei mehr als 200, 300 Restaurants an, bis ihm eine Stelle angeboten wurde.
WORLD TRIP
Nach dem Ende der Grundausbildung zog er weiter nach Australien, wo er eine Zeit lang für ein kleines Sushi-Unternehmen arbeitete. Aber mit der dort angebotenen modernen Variante von Sushi, mit Rolls und ähnlichen Fusion-Gerichten sowie der Verwendung von – aus Sicht von Sushi-Traditionalisten – nicht hochwertigen Fischarten wie Lachs konnte er sich auf Dauer nicht identifizieren. Aus demselben Grund beendete er im Anschluss den Versuch, zusammen mit seinem Onkel in einem Vorort von Washington ein Sushi-Restaurant zu betreiben: "Die Küche und die Einrichtung waren perfekt. Aber ich konnte mich mit meinem Onkel nicht auf ein Konzept einigen", sagt Jay Lee ein wenig wehmütig. Und so kehrte er schließlich nach Seoul zurück, arbeitete dort zunächst für einen Hersteller von Soju-Spirituosen und eröffnete später ein Restaurant im exklusiven Gangnam-Bezirk. Die Idee, auch dieses Projekt wieder zu verlassen und ausgerechnet nach Deutschland zu gehen, kam von einem weiblichen Stammgast: "Ich hatte eine Kundin aus Berlin, die kam an zwei bis drei Tagen in der Woche in mein Restaurant und sagte, dass es in Deutschland kein Restaurant wie meines gebe und dass ich nach Deutschland kommen solle, wo ich der erste und sicher sehr erfolgreich sein würde." Eine Reihe privater Schicksalsschläge gab letztlich den Ausschlag dafür, diesen Plan auch in die Tat umzusetzen.
Nach einer Reise durch Deutschland war Jay Lee davon überzeugt, dass der ideale Standort für sein traditionelles Sushi-Restaurant im Rhein-Main-Gebiet liegen musste: "Der Grund dafür ist der Frankfurter Flughafen. Der ganze frische Fisch kommt zuerst nach Frankfurt und wird dann in die anderen deutschen Städte weitertransportiert." Die Unmöglichkeit, in der Frankfurter Innenstadt geeignete und vor allem bezahlbare Räumlichkeiten zu finden, führte ihn schließlich nach Bad Vilbel.
THE ART OF OMAKASE
Jay Lee bietet seinen Gästen ein mehrgängiges Omakase- Menü an. Für Sushi-Besessene gibt es nur wenige Wörter, die eine ähnliche Vorfreude auslösen. Der Begriff "omakase shimasu" bedeutet, dass man sein Schicksal in die Hände eines anderen legt, und bezeichnet die japanische Tradition, den Chefkoch beziehungsweise die Chefköchin entscheiden zu lassen, was man essen wird. Bei einem Omakase-Menü muss man folglich nicht erst eine Speisekarte wälzen und darüber diskutieren, welches Gericht man bestellen soll, sondern man sitzt einfach da und genießt. Befreiend und aufregend zugleich.
Ich denke, das Wichtigste ist Leidenschaft und Hingabe. Es gibt keine Abkürzung, um Sushi-Chef zu werden. Aber wenn man Leidenschaft hat, kann man es schaffen. Jay Lee
Welche Gerichte es gibt, bestimmt jeden Tag das verfügbare Produktangebot aufs Neue. Und auch hier geht Jay Lee keine Kompromisse ein: nur die frischesten, hochwertigsten und besten Zutaten dürfen bei ihm auf die Teller. Um dies sicherzustellen, fährt er selbst dreimal wöchentlich um vier Uhr morgens an den Flughafen und nimmt den angelieferten Fisch in Augenschein. Sojasoße und eingelegten Ingwer stellt er selbst frisch und ohne Zusatzstoffe her und verwendet selbstredend nur echten Wasabi aus Japan, mit einem Preis von 400 Euro pro Kilogramm, der im Gegensatz zu dem ansonsten verwendeten gefärbten Meer rettich subtiler schmeckt und zusätzlich zu seiner Schärfe eine leichte Süße aufweist.
DINNER AND THEATRE
Lees Gerichte sind durchweg hervorragend und weisen ein hohes Maß an Kreativität und Handwerk auf. Ob gedämpfte Gillardeau-Austern in Austern-Dashi, Thunfish-Tatar mit Nashi-Birne, Eigelb und Sesam, Chawanmushi (eine Art Eierstich) mit Taschenkrebs, Steinbutt-Sashimi, Stein-butt-Leber mit Seeigel, Hummer, Dorade, Hamachi, Toro (der fetthaltige Teil des Thunfischs, der sich im Bauchbereich des Fisches befindet und einen reichen, buttrigen Geschmack besitzt) oder eine zum Abschluss vor dem Dessert servierte Miso-Suppe: alle Kreationen sind von hoher Qualität, auf den Punkt und mit viel Liebe zum Detail. Lee arbeitet konzentriert hinter dem Tresen, zerteilt präzise Fisch mit einem riesigen Messer, flämmt manches mit einem Bunsenbrenner ab, grillt anderes über Binchōtan-Kohle.
Wie die alten Edomae-Meister reift er einige Fischarten mit traditionellen Techniken, um den Geschmack stärker zu akzentuieren, beispielsweise nach Kombujime-Art durch Einwickeln in Algenblätter. Im Nigiri-Sushi Teil des Menüs beobachten wir die filigranen Handbewegungen des Sushi Meisters; den Reis, der von warmen Fingern und Handflächen geformt wird; den auf einer Reibe mit Haifischhaut geriebenen frischen Wasabi, der ganz exakt aufgetupft wird; den perfekt geschnittenen Fisch auf der Spitze. Jay Lee stellt die Nigiri direkt vor uns hin. Der Reis hat gerade noch Zimmertemperatur, ist luftig und dezent mit Essig gewürzt. Ein Teil des Fischs ist mit Sojasoße bestrichen. Die Sushi werden immer mit der idealen Menge an Soße und Gewürzen angerichtet, so dass Gäste nicht entscheiden müssen, wie viel richtig ist. Im Hintergrund ist das Zischen und Knacken des Bunsenbrenners zu hören. Es ist Abendessen und Theater zugleich.
PASSION AND DEDICATION
Jay Lee ist kein Mann großer Worte. Auf die Frage, was Gäste nach einem Besuch bei ihm mitnehmen sollen, antwortet er nur kurz und bescheiden: "Die Leidenschaft und Hingabe des Küchenchefs." Dies können wir nur unterstreichen und ergänzen, dass man sich das Omakase-Erlebnis in der Oyster Lodge nicht entgehen lassen sollte.