JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT - EXCLUSIVE PREVIEW

Eine Vision nimmt Gestalt an: Neubau und Sanierung des Jüdischen Museums Frankfurt sind im Oktober vollendet. Museumsdirektorin Mirjam Wenzel und Michel Friedman begleiteten THE FRANKFURTER bei einer exklusiven Baustellen-Preview und sprachen über die Hoffnungen, die sie in die neue Kulturstätte als Ort der Erinnerung, Begegnung und Auseinandersetzung legen.

„Speisekarte des Restaurants ‚Maxie Eisen‘ mit ‚Pastrami-Sandwich‘ und ‚Matzo Ball Soup‘, Frankfurt am Main, 2018, Schenkung James und David Ardinast.“ So liest man es an einer Vitrine im Rothschild-Palais am Mainufer, wo die neue Dauerausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt einziehen wird. Noch ist die Vitrine leer, wie alle, die schon auf der Baustelle sind und die eigentlich seit einem Jahr gefüllt sein sollten. Der Abschluss des 50 Millionen Euro teuren Erneuerungsprozesses verzögerte sich mehrmals, auch da sich der bauliche Zustand des Palais als wesentlich schlechter erwies als zunächst erwartet. Im Herbst soll der neue Kulturort nun endlich der Welt präsentiert werden. Die erste Sonderausstellung widmet sich ab 20. Oktober der „weiblichen Seite Gottes“.

Das Palais, bestehend aus zwei Gebäuden im typischen Stil des Frankfurter Klassizismus, welches das Jüdische Museum seit 1988 beherbergt, ist das betagte Herz in dieser weiten Ensemble-Brust – kostbar und durch gut gemeinte, aber brachiale Eingriffe nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Takt geraten. Mit der Sanierung pumpt man nun gleichsam frischen Sauerstoff in die Mauern, eine wichtige Ader stellt dabei die über- und unterirdisch gelegene Querverbindung zum Neubau dar.

UNDER CONSTRUCTION

Über uns, im Atrium des Neubaus, ein großes Stück Frankfurter Himmel, die Wände ringsum – aus feinem grauem Sichtbeton, samtig wie polierter Marmor – konzentrieren sich auf das Wesentliche. Beton geht auch schön! Mirjam Wenzel und Michel Friedman schlagen vor, sich für unsere Kamera auf einen Berg Isolierwolle zu setzen, der helle Staub an ihrer Kleidung wird diese Spontanität dokumentieren…

Wir wollen der Stadtgesellschaft und darüber hinaus allen einladend zugewandt sein. Mirjam Wenzel

Dass der Endspurt naht, ist nicht zu übersehen. Überall hängen Kabel wie Westernlassos aus den Decken, Handwerker eilen ameisengleich hin und her, Hammerschläge dröhnen. Unterirdisch bereiten sich wichtige Herzkammern auf ihren Einsatz vor, dort werden temporäre Ausstellungen zu sehen sein. Auch eine öffentlich zugängliche Bibliothek und einen Veranstaltungssaal wird es geben, ebenso ein Café mit Außenterrasse. „Dort können wir die Kaschrut, die jüdischen Speisegesetze, vermitteln. Es wird ein milchig-koscheres Deli, was es in Frankfurt so noch nicht gibt“, freut sich die Direktorin. „Geschützte Offenheit“ ist das Prinzip des Hauses: „Wir wollen ein ‚Museum ohne Mauern‘ sein, das heißt, der Stadtgesellschaft und darüber hinaus allen einladend zugewandt. Mir ist es wichtig, das Museum als sozialen Ort zu vermitteln.“

JEWISH HEARTBEATS

„Früher wohnten wir in Frankfurt ...“, begann Anne Frank ihr Tagebuch, das meistgelesene Buch über die Zeit des Nationalsozialismus. In der neuen Dauerausstellung wird der Nachlass ihrer Familie zu sehen sein, darunter Möbel, Spielzeug und Fotografien. „Das wird auch sehr viele Gäste aus Asien ansprechen, wo Anne Frank eine ganz eigene Rezeption erfährt“, erklärt Mirjam Wenzel. Tatsächlich wird Anne Frank in Japan fast wie eine Heilige verehrt.

Alltagsgegenstände, Briefe oder Memorabilia von Frankfurtern, das narrative Moment ist zentral. In ihnen verdichten sich individuelle und kollektive Erfahrungen, Selbstdeutungen und Beziehungen. Jurist und Publizist Michel Friedman, der schon früh die Erweiterung des Jüdischen Museums forderte, erzählt von einem kleinen Stück Holz, das er in seiner Anwaltskanzlei wie einen Schatz hütet. „Als die Fabrik von Oskar Schindler, der lange in Frankfurt lebte und den ich persönlich kannte, restauriert wurde, musste der alte Bodenbelag entfernt werden. Ein Stück davon besitze ich nun, für mich ein starkes Symbol. Meine Eltern, die gerettet wurden, liefen damals darüber."

Mich erinnert das Holzstück immer daran, andere zu ermutigen, etwas zu tun. Oskar Schindler hat etwas getan! Ein Überlebender sagte einmal, in Auschwitz sei das 11. Gebot geschrieben worden: ‚Du sollst nicht gleichgültig sein!‘ Michel Friedman

MEMORY, MESSAGE, MISSION

Ich wünsche dem Haus leidenschaftliche, konstruktive Streitgespräche. Michel Friedman
Im obersten Stockwerk des Palais wird es künftig um die jüdische Gegenwart gehen. In der Etage darunter, erreichbar über das historische stuckverzierte Treppenhaus, stehen „Tradition und Ritual“ im Mittelpunkt, und im untersten Stockwerk werden die Besucher von einer Dokumentation bedeutender jüdischer Familien, darunter die Rothschilds und die Sengers, empfangen. „Jüdische Identität ist tausende Jahre alt und nicht reduziert auf die Zeit des Nationalsozialismus. Der Beitrag jüdischer Bürgerinnen und Bürger in Frankfurt reicht Jahrhunderte zurück und spielt auch nach 1945 und bis in die Gegenwart hinein eine Rolle. Das muss das Jüdische Museum deutlich machen. Daher ist es auch kein Holocaust-Museum“, erläutert Friedman und wünscht dem erweiterten und erneuerten Haus unter anderem „leidenschaftliche, konstruktive Streitgespräche“.
Der Zeitpunkt sei markant: „Im Deutschen Bundestag ist eine Partei des Hasses vertreten, das ist eine äußerst kritische Situation. Und Judenhass hat in Deutschland eine Enthemmung gefunden, wie wir es bisher kaum kannten. Wie wir in zehn Jahren dastehen, ist so offen wie noch nie.“ Umso mehr seien junge Menschen eine Zielgruppe. Mirjam Wenzel: „Wir versuchen, jüdische Geschichte und Gedächtnis auch für Schülerinnen und Schüler an Berufsschulen, die noch nie in einem Museum waren, interessant zu erzählen. Auch wollen wir Menschen erreichen, die gegenüber jüdischen Museen Vorurteile haben. Das ist unser politischer Auftrag im Moment."

TO BE DISCUSSED...

Ich wünsche mir, dass das Museum ein lebendiger Ort des Austauschs, der Diskussion und Selbstreflexion wird. Und dass jeder mit mehr Fragen rauskommt, als er reingekommen ist Mirjam Wenzel
Beim Richtfest vor gut zwei Jahren trank der Zimmermann drei symbolische Gläser Apfelwein auf alle am Bau Beteiligten, bevor er das Glas an der Außenwand des Neubaus (nach Entwürfen des Berliner Büros Staab Architekten) zerschmettern ließ. Mirjam Wenzel und Michel Friedman erinnern sich gut daran. Jetzt stehen sie bester Laune auf dem neu angelegten Vorplatz vor der elf Meter hohen, eisgrauen Baumskulptur von Künstler Ariel Schlesinger, der eigens für das Museum das symbolträchtige Werk geschaffen hat: Ein Baum reckt sein Wurzelwerk zum Himmel, während seine Krone mit dem Baum unter ihm verwoben ist. Der Baum zweifach, gleich einer Spiegelung seiner selbst. Entwurzelung und Verbundenheit. Wir fragen, was sie aneinander schätzen, die Direktorin und der Publizist. Es sprudelt viel gegenseitige Anerkennung. Sie teilen einen besonderen Humor. Michel Friedman: „Ich lache furchtbar gern mit ihr. Manchmal lachen wir über sehr ernste, bittere Dinge, wo einem das Lachen eigentlich im Halse stecken bleibt. Sie ist ein großes Geschenk für dieses Museum.“