MONTANA - BACK TO THE ROOTS

Filmemacherin Dagmar Titsch nennt die Rocky Mountains ihre Seelenlandschaft. Auf dem Pferderücken trat sie mit Gleichgesinnten ein modernes Travel-Abenteuer in der grandiosen Landschaft des Bob-Marshall-Nationalparks in Montana an. Für THE FRANKFURTER erzählt sie von ihrer Tour mit Mustangs, Wranglers und Flüssen, aus denen man trinken kann.

AUGUSTA, MONTANA – THE GATEWAY TO WILDERNESS

Frankfurt – Chicago – Great Falls Montana. Ich fliege mit unbändiger Vorfreude an den Missouri River, wo es normalerweise Reisende hintreibt, die in der überwältigenden Berg- und Flusslandschaft wandern, mountainbiken oder angeln wollen. In der Flughalle von Great Falls empfängt ein präparierter Grizzly die Gäste und weist auch mir den Weg: Ich werde durch „bärenstarkes“ Gebiet reiten. Amy Mills, Chefin von „Mills Wilderness Adventures“, holt mich ab und bringt mich nach Augusta, ein gemütliches historisches Städtchen, altes Prärieland. „The Gateway to Wilderness“, wie Amy sagt.

Mein Abenteuer beginnt kurz nach Sonnenaufgang am Benchmark Camp. Das ist der Punkt, an dem man in ein Gebiet eintritt, das vollkommen straßenlos ist. Die Durchquerung dieser Landschaft ist nur zu Fuß oder auf einem Pferd möglich. Beides geht auch. Ansonsten geht nichts. Das Land der „Bob Marshall Wilderness“ umfasst mit den angrenzenden Landschaftsteilen, Scapegoat und Great Bear Wildnis, eine Fläche von etwas mehr als 6.000 Quadratkilometern. „The Bob“, wie das Land liebevoll von den Einheimischen genannt wird, ist die Heimat der Grizzlybären, Schwarzbären, Elche, Hirsche, Wölfe und Luchse. Dass ich einige von ihnen treffen könnte, war zunächst noch unvorstellbar.

OVER THE INDIAN CREEK

Auf 35 Pferden und Maultieren wird alles sorgfältig verstaut, was unsere Gruppe während einer Woche in der Wildnis braucht: Schlafsack, Klamotten wie Regenjacke und eine lange Hose, Dosenbier, Eier, Nudeln und vieles mehr. Die Ponys und Mustangs, die uns neun Reisenden zugewiesen werden, hören auf Namen wie Tombstone, Greenlake, Whisky, Strawberry, Pin Ball und Brandon. Mein hübscher Mustang heißt Janson.

Unsere bunt zusammengewürfelte Truppe wird von Amy Mills angeführt, Oberhaupt des Familienunternehmens „Mills Wilderness Adventures“, das seit vielen Jahren Outfitting Business mit Pferden anbietet: also geführte Outdoor-Expeditionen mit gestellter Ausrüstung, Verpflegung und Transportmittel. Chefin Amy sollte man, solange sie auf ihrem Pferd sitzt, niemals widersprechen, das merken wir schnell. Unser Weg führt entlang des Sun Rivers (bekannt aus dem Robert Redford Film „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“) und des Indian Creek über Flussbrücken aus Holz zum Indian Point. Schmale Pfade schlängeln sich durch Fichtenwälder. Zwischen den Bäumen schmücken lilafarbene Blütenmeere das Bild einer dichten Waldlandschaft. An der höchsten Stelle verläuft die Route auf dem White River Pass über die beeindruckende Bergkette der Continental Divide. Bei einem Blick in den Abgrund schießt mir beim Anblick der drohenden Gefahren das Blut in den Kopf. Doch nach zehn Stunden Ritt verfliegt das Gefühl der Angst und ich lasse mich von Janson geschickt die steilen und steinigen Abhänge hinunterschaukeln bis in das Herz vom „Bob“ hinein, dem Basis Camp der Familie Mills am Ufer des White River.

BLUE JEANS AND WRANGLERS 

Das Camp befindet sich inmitten der Wälder, vertont vom Flüstern wildfließender Gewässer, die so rein und klar sind, dass man aus ihnen trinken kann. Was will ich mehr? Weniger kann ich mir allerdings auch nicht vorstellen, denn wir schlafen auf Feldbetten in Zelten, die nachts zum Schutz vor wilden Tieren verschlossen werden. Und es ist kalt, sehr kalt. Während unsere amerikanischen Freund:innen in dicken Daunenfeder-Schlafsäcken schlummern, klappern meine Zähne den Takt unerfahrener Europäer:innen in einem dünnen Schlafanzug. Morgens dann wartet Amy im großen Küchenzelt, dem gesellschaftlichen Zentrum des Camps, mit heißem Kaffee, French Toast und gebratenen Eiern auf uns. Das treibt die Kälte aus den Knochen. Während Amys Mann, Tucker, am Küchentisch letzte wertvolle Instruktionen zum bevorstehenden Trip verteilt, satteln das Wrangler-Duo Ron und Ray Mills mit Hilfe von Tuckers Söhnen die Pferde.

Der siebzigjährige Ron Mills ist der Begründer des Familienunternehmens. Zusammen mit seinem Bruder Ray und Sohn Tucker, dessen Ehefrau Amy und ihren zwei Söhnen, Bryan und Turk, bilden sie ein festes und verlässliches Team. Sie verbindet eine jahrelange und Generationen übergreifende Leidenschaft, die viel Erfahrung mit Tieren und der Natur mit sich bringt. Es stellt sich schon bald heraus, dass der ebenfalls über 70 Jahre alte Ray zu den interessanten Geschichtenerzählern seiner Generation zählt. Und wie es sich für einen waschechten Wrangler in Blue Jeans und Stiefeln gehört, sieht man ihn immer mit Cowboy Hut und einem Strohhalm zwischen den Zähnen. Auf unseren täglichen Touren und abends vor dem Küchenzelt erzählt er uns von den heimischen Pflanzen und von Pfaden, die bereits alte Indianerstämme für ihre Wege nutzen.

SHOWER IN THE FOREST

In den folgenden Tagen überqueren wir das steinige Bett klarer Gebirgsflüsse und erklimmen die steilen Pfade hoch zur Chinese Wall, zu den Gladiator Mountains oder zu den Haystack Mountains. Einen grandiosen Anblick bieten die Needle Falls, ein Wasserfall, der eine Stunde Fußmarsch vom Camp entfernt sein blau-grünes Wasser in den White River ergießt.

Am Abend steht uns eine selbstgebaute Dusche mitten im Wald zur Erfrischung bereit. Das Wasser wird in Plastikbeuteln erhitzt, die tagsüber auf dem Gras in der Sonne liegen. Jeden Abend ist es ein beeindruckendes Schauspiel, wenn die Pferde durch eine Wolke flimmernder Staubpartikel in den Wald davon galoppieren. Über Nacht verbleiben sie in freier Natur, ganz der Lebensweise von Wildpferden entsprechend, die heute noch in den Rocky Mountains vorkommen. Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, machen sich Ron und Ray erneut auf den Weg, um die Pferde zurückzuholen. Die Spuren, die sie hinterlassen haben, dienen den Wranglern als wertvolle Signale, um die einzelnen Herden in den Bergen wiederzufinden.

BEWARE OF THE BEARS!

„Hey, my dear, don’t forget your bear spray!“ Den Satz rufen die Amerikaner:innen mir zu, wenn ich zum White River gehe. Das Pfefferspray sprüht man im Abstand von acht Metern einem Bären ins Gesicht. An einem Nachmittag kommt tatsächlich ein ausgewachsener Bär mit gesenktem Kopf am Fluss entlang geschlendert. Ein Grizzly! Entgegen meiner Hoffnung, dass der Bär weiter am Fluss entlang zieht, wechselt er seine Richtung und kommt auf mich zu. Als er mich sieht, zuckt er vor Schrecken zusammen. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf: Hinter mir ist der Fluss, vor mir ist das Camp, dazwischen der Bär. Oben im Camp sitzen die anderen und trinken Dosenbier. Entschlossen sprinte ich los. Oben angekommen fühle ich das Herz im Hals schlagen, die Knie zittern maßlos. Doch da steht er wieder, keine zwanzig Meter von mir entfernt. Langsam versuche ich nun rückwärtszugehen und dabei lasse ich den Bären nicht aus den Augen. Das Tier folgt mir neugierig. Als meine Angst massiv ansteigt, bleibe ich mit beiden Beinen fest im nadeligen Waldboden verankert stehen. In einer auflodernden Wut fordere ich den Bären wortlos auf, zu verschwinden. Als er noch seine Nase hebt und schnüffelt, erkenne ich auf einmal seine wilde Schönheit, sein zinnrotes Fell und die puscheligen Ohren. Meine Angst verschwindet. Da dreht sich der Bär um und hoppelt davon. Diese Begegnung werde ich niemals vergessen.

Als der Grizzly vor mir seine Nase hebt, erkenne ich seine wilde Schönheit. Dagmar Titsch

Zurück in Deutschland, erinnere ich mich noch oft an viele Bilder dieser Reise, die sich mir wie ein Seelenabdruck ins Gemüt gebrannt hat. Ganz besonders ist mir der „Blick“ in Erinnerung geblieben, jener hoch zu Pferd, durch die beiden Ohren von Janson hindurch steil hinab auf den steinernen und wackligen Weg vor mir. Mit jedem Takt des Pferdeschrittes schaukelte ich sanft durch diese wunderbare, stille Welt und jedes Schaukeln drückte mich unweigerlich ein Stück näher zu mir selbst.