J.W. ANDERSON - THE FASHION SURREALIST

Jonathan William Anderson zählt zu den gefragtesten und aufregendsten Modemachern weltweit. Sein Ehrgeiz und zeitgenössisch-progressiver Designansatz haben das spanische Luxuslabel Loewe zu einer der erfolgreichsten Modemarken gemacht. THE FRANKFURTER Fashion-Expertin Vivian Werg nähert sich dem Wunderkind der Stunde.

Mit seinen verwuschelten Haaren, den Husky-blauen Augen und der kindlichen Ausstrahlung wirkt Jonathan Anderson auch mit 38 Jahren noch wie der nette Junge von nebenan. Wenn er nach seinen Shows zögerlich auf den Laufsteg tritt und schüchtern lächelt, scheint es, als ob er auch nach vielen Jahren seinen Erfolg immer noch nicht ganz glauben kann. Doch dieser Eindruck täuscht. Der Modemacher weiß genau, wie er auf der Gewinnerseite landete. Er gehört zur ersten Generation echter „Digital Natives", die es zu einem weltweit anerkannten Designer gebracht haben. Seit gut 14 Jahren gehört er zu den gefragtesten seiner Zunft. Sein eigenes Label „JW Anderson“ und „Loewe“, das er als Kreativchef betreut, sind zwei unterschiedliche Marken mit unterschiedlichen Dynamiken – beide führt er gleichermaßen erfolgreich. Nur wenigen Kreativen gelingt ein solcher Spagat. Jonathan Anderson gelingt dies mit einer scheinbar unangestrengten Leichtigkeit. Jede Saison erwartet man voller Spannung seine neuen Kollektionen. Er irritiert, provoziert, fasziniert.

PIONEER OF NON-BINARY FASHION

Jonathan Andersons ikonische Taschen wie die Loewe „Puzzle“ mit ihrem geometrischen Patchwork, die „Flamenco“ mit Kordelzug und die sanft strukturierte „Hammock“ gelten längst als neue Klassiker. Seine kultigen handgefertigten Ledersandalen mit einer Rose als Absatz aus der Loewe Frühjahr/Sommer 2022 Kollektion haben inzwischen Sammlerwert. Anderson ist es gelungen, ein Modehaus, das im traditionellen Handwerk verwurzelt ist, mit neuen spannenden Designs erfolgreich in die Zukunft zu führen. Seit er die kreative Leitung für Loewe übernommen hat, ist der Jahresumsatz des Unternehmens um das Fünffache gestiegen. Der erste deutsche Flagship Store „Casa Loewe“ eröffnete vergangenes Jahr an der Münchner Maximilianstraße. Am Frankfurter Flughafen gibt es einen kleinen Loewe-Store. Auch sein eigenes Label hat sich zu einer preisgekrönten Marke entwickelt, die dafür bekannt ist, mit innovativen Schnitten auf subtile und unbeschwerte Weise Grenzen zu überschreiten. Anderson gilt als ein Wegbereiter der nicht-binären Mode. Dabei verzichtet der gebürtige Ire selbst darauf, seine Mode als „unisex“ oder „androgyn“ zu bezeichnen. Aber was macht Mr. Anderson eigentlich so erfolgreich?

THE PHENOMENON

Jonathan William Anderson, wie er mit vollem Namen heißt, wächst im nordirischen Städtchen Magherafelt auf und zieht mit 18 Jahren nach Amerika, um Schauspiel zu studieren. Aber die große Bühne ist nichts für ihn. Die Bühnenkostüme, das Leben hinter den Kulissen – das liegt ihm mehr als das Spiel auf der Bühne. Zwei Jahre versucht er es, dann bricht er ab. Er geht schließlich nach London und studiert am renommierten London College of Fashion Modedesign, wo er 2007 mit Diplom abschließt. Die meiste Zeit habe er aber geschwänzt und lieber die Schaufenster bei Prada dekoriert, gesteht er.

Nichts ödet mich mehr an als Beständigkeit. Jonathan Anderson, Modedesigner (JW Anderson/Loewe)

Danach folgt ein gewaltiger Karrieresprung nach dem anderen. Mit kaum 24 Jahren gründet er inmitten der globalen Finanzkrise sein eigenes Label. Er startet mit einer Herrenkollektion, was gemeinhin als besonders schwieriger Einstieg in die Modewelt gilt, und expandiert bald darauf in die Damenmode. Mit seinem Label schwankt Anderson zwischen Tradition und Avantgarde und verwischt gern die Grenzen zwischen Mann und Frau, indem er Looks kreiert, die bei beiden Geschlechtern funktionieren. Der British Fashion Council wählt ihn dafür 2012 zum besten Nachwuchsdesigner. Viele weitere Awards folgen, wie etwa 2015 die historische Doppelauszeichnung für „Menswear“ und „Womenswear Designer of the Year“ – das erste Mal, dass eine Marke beide prestigeträchtigen Preise gewinnen konnte. Die New York Times rühmt ihn für seine einzigartige Designästhetik und die zum Nachdenken anregenden neuen Silhouetten als den „Meister der neuen Formen“. Rückblickend würde man seine Unternehmung als wagemutig bezeichnen. Aber sein Mut und seine Unverfrorenheit zahlen sich aus. Seine Kollektionen werden binnen weniger Saisons so erfolgreich, dass die großen internationalen Modeinvestor:innen nicht mehr nur nach London schauen, sondern auch aktiv werden: im September 2013 erwirbt der französische Luxuskonzern LVMH eine Minderheitsbeteiligung an seiner Marke. Zur selben Zeit folgt der Loewe-Coup: Delphine Arnault, nach ihrem Vater Bernard die zweitmächtigste Person bei LVMH, und Pierre-Yves Roussel, damals Leiter der Modegruppe bei LVMH, verpflichten Jonathan Anderson als Kreativdirektor von Loewe. Der Rest ist Geschichte.

A MARATHON MAN 

Es ist bezeichnend, dass die erste Person, die an Jonathan Anderson für Loewe dachte, er selbst war. Roussel war damals auf der Suche nach einem neuen Designer für das spanische Traditionshaus, das in der Rangliste der LVMH-Modemarken ganz unten stand. Als er den irischen Designer fragte, ob er jemanden kenne, hob dieser selbstbewusst die Hand. Und vielleicht unterscheidet genau das Jonathan Anderson von anderen Designern. Er weiß, wann die Dinge ihm eine Chance bieten – und ergreift sie. Frei nach dem Motto: Alles oder nichts. Die Branche reagierte über seine Ernennung als Chefdesigner zunächst skeptisch. Ein Jungdesigner soll für das Luxuslabel, dass seit 1846 existiert, entwerfen? „Man sollte tun, was man selbst für richtig hält. Und nicht, was die anderen erwarten“, ist sein Statement zur Ernennung. Mit der gleichen diskreten Entschlossenheit und einem nicht zu bremsenden Ehrgeiz, hat er das Fundament von LVMH´s ältestem Luxusmodehaus neu errichtet und zu neuem Glanz verholfen. Dabei ist ein Relaunch einer historischen Luxusmarke alles andere als ein leichtes Unterfangen. Die Gefahr zu scheitern ist groß, und es erstaunt, mit welcher Selbstsicherheit der Designer seine Ästhetik und Visionen bei Loewe durchsetzen konnte. Seine Zeit teilt der Designer zwischen Paris, wo sich das Kreativbüro von Loewe befindet, Madrid, dem historischen Sitz des Hauses, und dem eigenen Markensitz London. Man könnte meinen, dass ein ständiges Pendeln zwischen drei Standorten kräftezehrend ist. Nicht für Anderson. Im Gegenteil. Wie ein „Duracell-Hase“ ist er ständig auf der Suche nach neuen Impulsen, Seltsamem und Wunderbarem, die sein gieriges Hirn füttern. Nichts öde ihn mehr an als Beständigkeit. Das rastlose Dasein, der ständige Wechsel zwischen den beiden Labels treibe ihn an. Jean-Jacques Picart, ein in Paris ansässiger Berater für Luxusmode- und Accessoiremarken, beschreibt die Realität eines jungen und dynamischen Designers im 21. Jahrhundert zu sein ganz treffend: „Entweder man steigt in ein Auto, das gefährlich schnell fährt oder man geht zu Fuß und muss hinterherlaufen“.

HONEST CLOTHING FOR SURREAL TIMES

Manche von Andersons Kreationen erinnern an moderne Haute Couture. Skulpturale Kleider, die in unerwarteten Winkeln von den Körpern abstehen, übergroße Mäntel und Jeansjacken mit übertriebenen Proportionen und wellenförmigen metallischen Brustharnischen. Models laufen auf zierlichen Sandalen mit Absätzen in Form von Seifenstücken, Nagellackfläschchen, Eiern und in einem besonders exquisiten Design auf einer Rose. In den vergangenen Saisons setzte Anderson seine Erkundung von „surrealer Mode für surreale Zeiten“ fort. Dabei passt das Surreale perfekt in unsere Zeit voller sowohl-als-auch-Unberechenbarkeiten. Der Designer wünscht sich jüngere Leute in der Modeindustrie. Die Branche brauche neue Sichtweisen. Anderson weiß, dass sich die Welt, in der wir leben, von Minute zu Minute verändert. Alles, was man online sieht, ist eine Kopie einer Kopie einer Kopie – und in Minutenschnelle auf eine Simulation reduziert. Durch diesen digitalen Lärm hindurch kreiert er Kleidung, die aggressiv sein kann, aber kompromisslos in ihrer Schönheit und ihrem Handwerk. Es gibt aber einen Silberstreif der Romantik und des Klassizismus, der sich in einer Welt der Fälschungen auf ein Bekenntnis zu Eigenart und Einzigartigkeit gründet. Es sind Kleider, in denen man Platz nehmen kann, von denen man sich verzehren, und - was vielleicht am wichtigsten ist - in denen man konsumieren kann. Ein neugieriger und offener Geist ist dabei das beste Accessoire.